Die Liebe, das Fest und die erfüllte Zeit

Ursula-Michaela Berg aus Blankenheim war als ZEIT-Reisende mit uns in Oberheimbach. In diesem Reisebericht teilt sie ihre Reiseerfahrung und tut kund, was diese philosophische Weihnachtsreise so besonders gemacht hat.

„Die Liebe, das Fest und die erfüllte Zeit“

,so lautet das Thema unserer viertägigen philosophischen Weihnachtsreise im romantischen Weinbergschlösschen in Oberheimbach am Mittelrhein. Welcher Zeitpunkt könnte besser geeignet sein als zehn Tage vor Weihnachten, der Zeit, in der Menschen in aller Welt das Fest der Liebe begehen?

Was für eine gute Idee, sich einmal raus aus dem Konsumdschungel vor dem heiligen Abend zu beamen und sich ganz dem eigentlichen Thema zu widmen, um das es Weihnachten eigentlich geht: Dem Thema Liebe.

Nachdem wir Gruppenmitglieder in der komfortablen Lounge des Hotels alle versammelt waren, stimmte uns Dr. Phil. Christoph Quarch mit einem Glas Sekt und einer sehr herzlichen Willkommensrede auf die bevorstehende ZEIT-Reise ein. Sehr motiviert begaben sich alle in den großen, hellen Konferenzraum, der weihnachtlich geschmückt war. Nach einer sehr intensiven Vorstellungsrunde, bei der wir auch alle die Motive unserer Reise offenlegten, näherten wir uns untereinander schnell an und es entstand eine lockere Atmosphäre, in der wir alle bereit waren, offen über unser gemeinsames Thema zu diskutieren.

Zunächst stellten wir uns die Frage, welchen Stellenwert die Liebe überhaupt noch in unserer heutigen Gesellschaft hat und was ihr ursprüngliches Wesen ist. Kann sie in unserer heutigen Welt von KI und ChatGPT überhaupt noch Ausdruck finden?

Literarisch begleitet – Sven Hillenkamp und Viktor E. Frankl

Herr Dr. Quarch überreichte jedem von uns eine 43-seitige bebilderte Textmappe, in der er zum Thema passende literarische Schriftstücke aus mehreren Epochen und deren unterschiedlichen Betrachtungsweisen zum Thema Liebe zusammengestellt hatte.

So lasen wir interessante Textauszüge von Sven Hillenkamp, der in seinem Buch: Das Ende der Liebe (2009) zwei Feinde der Liebe ausmacht: die äußeren Zwänge der Gesellschaft und die neu errungene innere Freiheit, die ins Unendliche strebt. Wir lasen einen Text von Viktor E. Frankl, der inmitten von Trostlosigkeit zum ersten Mal die Liebe als Letztes und Höchstes erlebt. Er erfährt die Liebe als etwas Bejahenswertes, etwas Sinnstiftendes.

Dabei kamen wir zu dem Schluss, dass die Liebe ein Phänomen ist, das man schwer erfassen, geschweige denn begreifen oder definieren kann, doch das in der Menschenwelt überall zu Hause ist. Sie hat ungeahnte, vielschichtige Wirkungsweisen, sie bewegt uns, sie ergreift uns, sie hebt uns aus den Angeln, sie bereichert uns, sie gibt dem Leben Sinn und Bedeutung und wenn sie sich verabschiedet, hinterlässt sie meist Spuren der Verwüstung und der Verzweiflung.

Während eines liebevoll gestalteten kulinarischen Drei-Gänge-Menüs tauschten wir uns bereits lebhaft über unsere Ansichten zum Thema Liebe aus. Danach versuchten wir in einer neuen Runde alle den verschiedenen Erscheinungsformen der Liebe auf die Spur zu kommen und eine tragfähige philosophische Theorie zu erkennen, die allen Vorstellungen von Liebe zu Grunde liegt.

Aphrodite und Eros

Dazu stiegen wir zunächst ein in die altgriechische Mythologie und versuchten, der damaligen Denkweise der Griechen auf die Spur zu kommen. Aus unserer heutigen, meist christlichen und monotheistischen Sicht heraus war es nicht leicht, sich in die Vorstellungen der damaligen Vielgötterwelt hineinzuversetzen. Dr. Quarch brachte uns diese Welt mit ganz viel persönlichem Engagement nahe.

Die Göttin Aphrodite war in dieser damaligen Welt der Inbegriff der Liebe und der Schönheit, die auch der Dichter Homer im 8. Jahrhundert vor Christus in seinen Hymnen besang als eine Erscheinung, die die Götter-, Menschen- und Tierwelt bezwang. Ihre lebensspendende Schönheit und ihr Liebreiz durchdrang und erfasste alle und alles, was sie umgab. Sie galt zugleich als Garantin der Freude. Die Ausstrahlung ihrer geistigen Schönheit hält alles auf Erden aufs Innigste zusammen.

Mit Eros, dem Sohn der Aphrodite, kommt die Macht der Liebe über den Menschen. Liebe ist eine Himmelsmacht, mit der wir uns plötzlich verbunden fühlen, sie ergreift uns, sie ist nicht zu erwerben. Eros nimmt den Menschen in Besitz, beflügelt ihn, aber macht auch unfrei und hinterlässt zugleich Chaos und Leid. Der Liebe in Gestalt des Eros widmete Platon zwei seiner bekanntesten Dialoge, dem Phaidros und dem Symposium. Wir lasen Auszüge aus dem Phaidros, in dem wir mit einem interessanten Gleichnis vertraut gemacht wurden. Es beschreibt die menschliche Seele als ein gefiedertes Gespann mit einem Wagenlenker der Vernunft, wobei dieser sowohl edle und göttliche Rosse als auch Rosse gegenteiliger Art ins Ziel steuert. Die Rosse, die ihre Flugfedern von dem Schönen und reinem Geist ernähren, nähern sich dem Göttlichen, den anderen fehlt die Kraft dazu.

Danach begaben wir uns vom Eros beflügelt auf eine Wanderung hoch auf die Weinberge, wo wir schließlich mit Kostproben der regionalen Weine, einem exquisiten Picknick und einer atemberaubenden Aussicht auf den Rhein belohnt wurden.

Zurück im Seminarraum befassten wir uns dann sehr motiviert mit Platons Symposium und der Priesterin Diotima, die in die Mysterien der Liebe einweihte. Durch den Eros bindet sich der Mensch an das Göttliche, das Gute, Wahre und Schöne. Der Eros hat transzendierende Kraft, beflügelt ihn und vereint ihn mit der spirituellen Kraft, die in seiner Seele ruht und schafft so die Erinnerung, seine eigene Kraft zur Entfaltung zu bringen. In vier Stufen gelangt er zur Erkennnis des absolut Schönen, durch Erfahrung der körperlichen, der seelischen, der sittlichen und kulturellen und schließlich der des Wissens und der Erkenntnis des allein wesenhaften Schönen. Der Tag endete wieder mit einem köstlichen Dreigang-Menu und vielen lebhaften Gesprächen unter den Seminarteilnehmern, wobei auch unser Seminarleiter stets präsent war.

Caritas oder cupiditas

Nach einem ausgiebigen Frühstück am dritten Tag beschäftigten wir uns mit dem ganz verschiedenen Konzept der Liebe, in dem auf Grundlage des christlichen neuen Testaments und der Kirchenväter ein völlig neues Verständnis von Liebe propagiert wurde als in der griechischen Antike. Wir erfahren die griechische Religion als eine Seinsreligion, während die christliche Religion sich als eine Machtreligion darstellt, die an einen monotheistischen allmächtigen Schöpfer gebunden ist. Die Liebe wurde zu einem Akt des Willens deklariert. Die Liebe erfuhr eine Moralisierung, wobei es je nach Willensrichtung eine gute oder schlechte Liebe, caritas oder cupiditas, gab.

Danach unterbrachen wir unsere Textarbeiten und genossen den sonnigen Tag nach einem sehr steilen Anstieg auf der Burg Rheinstein, einer märchenhaften, weihnachtlich geschmückten Burg, von wo aus sich uns hoch oben ein herrlicher weiter Ausblick über den Rhein bot.

Zurück im Hotel schauten wir uns einen passend zum Thema ausgewählten Film an, in dem sich alle möglichen Facetten der Liebe widerspiegelten (Tatsächlich Liebe). Der Film vermochte uns durchweg alle sowohl aufzuheitern als auch tief zu berühren, und wir teilten unsere neu gewonnen Eindrücke untereinander mit, bevor wir dann mit vielen neuen Gedanken im Kopf zum Abschlussdinner zu Tisch gingen.

Friedrich Hölderlins Hyperion

Am letzten Tag wurden wir gleich nach dem Frühstück mit einem ganz neuen Aspekt der Liebe vertraut gemacht: der reinen Liebe als befreiende und beglückende Kraft. Dazu lasen wir Textauszüge des größten Enthusiasten der Liebe im deutschsprachigen Raum, Friedrich Hölderlin.  In seinem Briefroman Hyperion aus dem 18. Jahrhundert erfährt dieser die Liebe als himmlisches Wesen in Gestalt von Diotima. Seine Liebe entzündet sich an ihr. Er fühlt sich ergriffen von einer Schönheit, die die ganze Welt umfasst. In der Liebe erfüllt sich ihm alles Dasein, wobei alles scheinbar Getrennte sich vereint. Eine neue geistige Welt blüht in ihm auf, frei von Haben und Wollen, eingebettet in die herrliche unschuldige Natur erfährt er sein wahres Wesen. Die bedingungslose Liebe lässt ihn grenzenlose Freiheit spüren, eine Freiheit, die sich auch zu einer politischen und ökonomischen Freiheit ausweitet.

Im Hinblick auf unser Weihnachtsfest stellte sich uns dann die Frage: Welche Bedeutung hat ein Fest?

Dazu lasen wir einen Text von H.G.Gadamer: Die Aktualität des Schönen, in dem der Autor das Fest als etwas beschreibt, was die Zeit zum Stillstand bringt, die Zeit erfüllt sich hier im Feiern selbst. Ein Fest ist zeitloser Ausdruck von Gemeinsamkeit, man versammelt sich auf etwas.

Abschluss – was von der Liebe bleibt

Zum Schluss machten wir uns noch Gedanken über die Bedeutung der Liebe in unserer heutigen Gesellschaft und bedauerten, dass die ursprüngliche göttliche Idee des antiken Eros in unserer Zeit eine Sinnentstellung, eine Entartung durch Käuflichkeit und Vermarktung erfahren hat, so dass der wahre Begriff des Eros in seiner ursprünglichen Bedeutung von Schönheit, Wahrheit und Erkenntnis verloren gegangen ist. Trotz allem aber lebt die Liebe in den Herzen der Menschen in der ganzen Welt als unangetastete Lebensquelle und alles verbindendes Element weiter und erwacht oft gerade zur Weihnachtszeit wieder, um ihr Fest der Gemeinsamkeit zu feiern.

Unsere philosophische Weihnachts-Reise endete dann am Sonntagmittag mit einer schönen Bescherung: Für jeden Teilnehmer lag ein wunderschönes Päckchen versehen mit einer Weihnachtskarte unter dem großen festlich geschmückten Weihnachtsbaum. Wie ich inzwischen weiß, sind darin zwei philosophische Bücher, mit denen wir Geistreiche auch im neuen Jahr unsere philosophische Reise fortsetzen können!