Welt-Anschauung

 

Vergangenen Mittwoch hatte ich Ihnen von der unbeschwerten Philosophiereise in das derzeit coronasicherste Land Europas berichtet. Heute beschreibt uns Christoph Quarch seine Eindrücke von dieser Reise zu den Quellen des europäischen Geistes. Sein Fazit: »Man muss weit in die Vergangenheit zurückgehen um den Schwung zu holen, den man für einen beherzten Sprung in die Zukunft braucht; und man muss nach Griechenland fahren, um die Kraft zu finden, die einen den Irrsinn in der eigenen Heimat ertragen hilft.« Eine wahrhaft inspirierende Lektüre!

 

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Mit Hygieia durch Griechenland

Eindrücke von einer Reise zu den Quellen des europäischen Geistes

 

Wenn Theodoros vom alten Epidauros erzählt, dann strahlen seine Augen mindestens so hell wie die herbstliche Mittagssonne am wolkenlosen griechischen Himmel. Und nicht minder leuchten die Augen derer, denen er das Leben im alten Heiligtum des Heilgottes Asklepios vor Augen führt. Erst als die Führung schon vorbei ist und er uns im Schatten alter Pinien Einblick in sein Herz gewährt, erlischt der Glanz in seinen Augen und Sorgenfalten treten auf seine Stirn: Achtzig Touren waren in diesem Jahr gebucht – unsere, Mitte Oktober 2020, ist die zweite, die er realisieren kann; und dafür musste er extra ein nagelneues Funk-Headset-Equipment anschaffen: ein grottiges Geschäftsjahr.

Überall, wohin man sieht und hört, das gleiche: Die zauberhaften, weiträumigen AmaliaHotels in Olympia und Nafplion, ausgelegt für hunderte von Gästen – leer; die weltberühmten Museen und Ausgrabungsstätten in Olympia – fast leer; die Tavernen, Shops und Restaurants – verwaist. Harte Zeiten für die griechischen Anbieter, doch paradiesische Verhältnisse für die Touristen, die allen Covid-Warnungen zum Trotz gekommen sind. Warum auch nicht? Griechenland ist in diesen OKtobertagen das einzige europäische Land neben Zypern, für das es keine Reisewarnungen seitens des Auswärtigen Amtes gibt. Und die Regionen Argolis und Elis, die unsere kleine ZEIT-Reisegruppe besucht, sind ohnehin so gut wie covid-frei. Hier kann man reinen Gewissens einige Tage lang den ganzen Covid-Stress von daheim vergessen. Zumal man sich in Griechenland peinlich genau an die Hygiene-Vorschriften in Museen, Restaurants und Hotels hält; viel genauer als im angeblich so disziplinierten Deutschland. Hygieia (dt.: Gesundheit), die schönste Tochter des Asklepios, wird von den Nachfahren der alten Hellenen nach wie vor mit Akribie verehrt.

Eine Griechenlandreise im Herbst 2020 changiert zwischen dem grenzenlosen Glück ob leerer Sehenswürdigkeiten, verwaister Strände, sommerlichen Wetters und der beispiellosen Gastfreundschaft der Griechen auf der einen Seite – und dem Kummer ob des wirtschaftlichen Niedergang und den Existenzsorgen dieser freundlichen Menschen auf der anderen.
Gerade deshalb, ist es umso besser, da zu sein und ihre Hoffnung auf ein Wiederaufleben des Tourismus im kommenden Jahr zu beleben. Ja, vielleicht auch eines besseren, bewussteren Tourismus. Denn auf die Kreuzfahrtgäste, die sonst heuschreckenartig über Olympia herzufallen pflegten, möchte man dort künftig gern verzichten. Man sehnt sich nach dem Qualitätstourismus aus Europa. Wenn man das von Einheimischen hört, weiß man sich als ZEIT-Reiseleiter am richtigen Ort zur richtigen Zeit.

Zumal, wenn es einem wirklich um Griechenland, die Griechen und ihr kulturelles Erbe zu tun ist, das im Zentrum dieser Reise steht. Es geht um die ältesten europäischen Denker:
Thales, Heraklit, Pythagoras und Anaxagoras, um nur ein paar derer zu nennen, deren Texte wir in den luftigen Konferenzräumen unserer Hotels lesen und in deren Denken wir eintauchen. Erkennbar, ja spürbar wird dabei eine geistige Matrix, die gänzlich anders ist als die, unter deren Macht wir heute leben: eine Denkweise, die eine beispiellose kulturelle Blüte hervorbrachte, der wir fast alle bedeutenden Errungenschaften der westlichen Zivilisation verdanken: von der Demokratie über die Philosophie und Wissenschaft bis zu einer Kunst, die Menschen bis heute zu begeistern vermag.

Gerade in unserer krisengebeutelten Zeit erweist sich der Geist der alten Griechen als kostbare Ressource. Hier haben wir es – bei Denkern wie Heraklit oder Empedokles – mit einer Philosophie und einem von ihr hergeleiteten Ethos zu tun, dessen Maß nicht der Vorteil der Einzelnen war, sondern die Harmonie des Ganzen. Man ahnt sogleich, dass hier ein unentfaltetes Potenzial des europäischen Geistes schlummert, das zu aktivieren höchste Zeit ist, wenn wir den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen wollen. Es zeigt sich einmal mehr: Man muss weit in die Vergangenheit zurückgehen um den Schwung zu holen, den man für einen beherzten Sprung in die Zukunft braucht; und man muss nach Griechenland fahren, um die Kraft zu finden, die einen den Irrsinn in der eigenen Heimat ertragen hilft.

Christoph Quarch