Eine philosophische Reise auf die Kapverden

Weit draußen im Atlantik liegen die Kapverdischen Inseln, 15 an der Zahl, davon neun bewohnt von einer halben Million Einwohnern. Sie bilden zwei Inselgruppen, die eine Flugstunde voneinander entfernt sind, die Inseln über dem Wind und die Inseln unter dem Wind, Ilhas de Sotavento und Ilhas de Barlavento.

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Einstiger Sklavenmarkt

Aus Afrika weht hier beständig der Nordost-Passat, der einst die Segelschiffe nach Amerika blies. Sie waren über 400 Jahre lang mit menschlichem Material beladen, mit Sklaven, die rechtlich irgendwo zwischen Sachen und Menschen standen. Die Kolonialmächte Portugal, Spanien, die Niederlande und England kauften den afrikanischen Potentaten die Sklaven ab und verschifften sie in die Karibik, nach Brasilien und in die Vereinigten Staaten. Etwa 13 Millionen zumeist männliche Sklaven gelangten auf diese Weise in die Neue Welt – ein Fünftel starb bei der Überfahrt in den engen und stickigen Laderäumen. Auf Santiago, der Hauptinsel des Kapverdischen Archipels, befand sich ein Sklavenmarkt, an den heute noch ein Denkmal erinnert, ein ehemaliger Pranger, an dem die Schwarzen damals festgekettet und zum Verkauf feilgeboten wurden.

»Nein, da gibt es bei den heutigen Kapverdianern keinen Groll ob der europäischen Grausamkeiten«, so beantwortet Carlos unsere Fragen nach der Erblast der Kolonialgeschichte. Ihn treffen wir am dritten Tag unserer ZEIT-Reise im Garten des Hotels. Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, der eine Crevetten-Farm angelegt hat, die er ohne Antibiotika betreibt und natürlich CO2-neutral mit Sonnenkollektoren. Carlos ist eine der vielen beeindruckenden Persönlichkeiten, die wir treffen, um uns über die Gegenwart des einstigen Armutslandes zu informieren. Ein Stipendium der Carl Duisberg Gesellschaft hatte ihm in jungen Jahren ein Studium des Maschinenbaus in Aachen ermöglicht, und nun möchte er, der heutige Mittfünfziger, seine Kräfte in den Aufbau des Landes stecken. Dank gutorganisierter Politik haben es die Kapverden heute zum Schwellenland gebracht hat. »Und überhaupt«, setzt er hinzu, »sind die Kreolen stets die Beamten Portugals gewesen, die deren Kolonien verwalteten«. Sie hätten dadurch ein Organisationsgeschick erworben, das dem jungen Staat heute zugute komme. Das sie europäischer mache als die Westafrikaner eineinhalb Flugstunden östlich. Kein Kapverdianer würde sich als Afrikaner fühlen, so betont auch Markus, unser Guide. Und er muss es ja wissen, denn er lebt seit 12 Jahren in Mindelo, der heimlichen Hauptstadt der Kapverden, – auf jeden Fall Hauptstadt der Kapverdischen Musik, der Morna.

© Peter Vollbrecht

Kapverdische Musik

Die Morna erzählt von der wechselhaften Geschichte der Kapverden, von der portugiesischen Kolonialisierung, vom Sklavenhandel, von den verheerenden Hungersnöten der vierziger und fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die viele Kapverdianer zur Emigration zwangen. Sie ist allgegenwärtig in den Bars, den Restaurants, ja sogar auf den Straßen, die Kapverdianer singen die Verse mit, werfen die Arme dabei und der Rhythmus fährt in ihre Körper. Nach wenigen Tagen wird uns klar: die Musik stiftet hier ein nationales Gemeinschaftsgefühl.

Ganz unerwartet inszeniert die Musik unser philosophisches Thema, das wir hier bereisen: Fairness, Gerechtigkeit und Gemeinsinn. Davon wird gleich zu reden sein, doch zuvor besuchen wir Gitarrenwerkstätten auf São Vicente und Santo Antão, in denen die Caraquinho gefertigt wird, eine Gitarre in Miniformat, ähnlich der Ukulele, und was wäre ein Besuch ohne die Lust am Spiel? Und schon legen sie los, und Markus ist trommelnd und rasselnd ganz schnell in seinem Element. Einen ganz besonderen Abend bereitet er uns, als wir bei ihm zuhause eingeladen sind zu einem typisch kapverdischen Essen. Danach Musik, gesungen von einer jungen Frau, die noch ganz am Anfang ihrer Karriere steht. Markus versteht sich auch als Entdecker neuer musikalischer Talente.

Auf Santo Antão schließlich reißt uns die Combo von den Stühlen und wir tanzen durch die Nacht im Restaurant Música do Mar. Verwundert und amüsiert steckt immer mal wieder ein Einheimischer seinen Kopf in die geöffneten Fenster und bestaunt die ausgelassene Gruppe reifer weißer Touristen.

© Peter Vollbrecht

Wanderparadies

Die Kapverden sind ein Wanderparadies. Eselspfade führen durch kargschöne Landschaften, dann wiederum geht es hinab zu grünen Feldern, auf denen jetzt im Dezember die weißen Blütenbüschel des Zuckerrohrs im Wind schaukeln. Ab Januar wird in den kleinen Destillerien der Grogue gebrannt, ein klarer Zuckerrohrschnaps. Dann und wann passieren wir ein Dorf, wo wir uns in einem kleinen Laden nochmals verproviantieren können, bevor es weiter geht, diesmal erneut bergan bis zur ›Kathedrale‹, einer sakral anmutenden Felsformation, die wie die Restmauer einer zerstörten Kirche aussieht. Von hier aus schlängelt sich der Weg weitere Stunden an der Küste entlang bis nach Mami Wata. Dort entsteht an spektakulärem Platz hoch über der schroffen Felsküste eine Hotelanlage, die ab 2022 der Standort der philosophischen ZEIT-Reise sein wird. Touristische Nachhaltigkeit sei das A und O, erklärt uns Kai Pardon, der Gründer von ›Reisen mit Sinnen‹, sein Konzept des Eco Village. Nur die Glühbirnen kommen aus Europa, alles andere werde auf den Kapverden gefertigt.

Philosophieren über Gemeinsinn und Gerechtigkeit

Das Wandern bildet den körperlichen Ausgleich zu unserem Vorhaben, hier draußen im Atlantik ausführlicher über Gemeinsinn und Gerechtigkeit zu philosophieren. Über das, was uns zusammenhält, über die engen familiären oder freundschaftlichen Bande hinaus. Über die solidarischen Schwerpunkte der Gesellschaft, über die sozialen Tugenden, die stets bedroht sind von der Gier unseres Wirtschaftens. Es geht also auf dieser Reise um die größeren Horizonte, um das größere Wir, dessen wir benötigen in einem Zeitalter der Überbevölkerung, der verknappten Ressourcen und der ökologischen Unverträglichkeit des menschlichen Lebens auf der Erde. Wo, wenn nicht dort, weit draußen im Atlantik, zwischen Afrika und Europa gelegen, wäre der ideale Ort, über die gesellschaftlichen Bindungskräfte nachzudenken? Dort, wo die Europäer einst den größten Menschenraub organisierten? Um afrikanische Identität muss es also sinnvollerweise auch gehen, wenn von Gerechtigkeit und Gemeinsinn die Rede ist. Wir studieren große Texte von den derzeit führenden Intellektuellen des subsaharischen Afrika: Achille Mbembes fulminante Kritik der schwarzen Vernunft etwa und Felwine Sarres Aufsehen erregende Essays Afrotopia. Beide Autoren buchstabieren uns Europäern noch einmal die alte rassistische Erblast, aber sie imaginieren auch ein neues Afrika, das auf seinen Entwicklungswegen die Fehler des Westens nicht wiederholen möchte. Philosophische Arbeiten in den Steinbrüchen der Hoffnung, dazu die schrilleren Töne des Schwarzen Feminismus, der den weißen Feministinnen deren verborgene Rassismen nachzuweisen versucht. Und dann stehen wir plötzlich mittendrin in der aktuellen Identitätsdebatte und hören gebannt einen Podcast von Alice Hasters, eine schwarze Journalistin, über den alltäglich erfahrenen Rassismus in Deutschland. Damit schließt sich ein Ring unseres thematischen Reigens.

Der aber ist nur einer unter mehreren auf unserer philosophischen Reise durch die Gerechtigkeitsvorstellungen der Weltzivilisationen. Einen anderen Ring bilden die ältesten Kulturen Ägyptens, Israels, Chinas und Indiens. Dort suchen wir den (schriftlich überlieferten) historischen Ausgangspunkt allen Nachdenkens über die sozialen Tugenden. Dann geht es in eiligen Skizzen durch die europäischen Debatten von der Antike bis zur Aufklärung, und länger verweilen wir beim ›state of the art‹ unseres Themas. Wir finden ihn bei den US-Amerikanern John Rawls und Martha Nussbaum und beim Bengalen Amartya Sen. Das Thema bekommt nun zur philosophischen Tiefe auch die nötige Weltbreite und deckt strukturelle Ungerechtigkeiten und verborgene Machtstrukturen auf.

© Peter Vollbrecht

Unfaire Fischereiabkommen der EU

Wieviel Ungleichheit verträgt die Gerechtigkeit? Immer wieder drehen sich unsere Gespräche um diese Frage. Markus, unser lokaler Guide, der sich sehr gern in unsere philosophischen Diskussionen einschaltet, gibt der Frage eine brisante Richtung: Die Europäische Gemeinschaft kauft dem Kapverdischen Staat Fischereirechte ab für die europäischen Hochseetrawler, die in den fischreichen Gewässern vor allem den begehrten Tunfisch fangen. 50 Euro ist der Preis für die Lizenz für eine Tonne Fangfisch.1 Umgerechnet auf das Kilogramm (Ladenpreis derzeit ca. € 30-50 pro Kilo) ergeben das 5 Eurocent Lizenzerlös auf das Kilo Fangfisch. Ein Schnäppchenpreis, für den die Europäer Rechte an der kapverdischen Natur erwerben.

Die mächtige EU und das kleine Kapverden: Wieviel Ungleichheit verträgt die Gerechtigkeit?
Der US-Amerikaner John Rawls hat dafür eine Formel entwickelt. Ungleichheiten, so meinte er, müssen den am wenigsten Begünstigten den größten Vorteil bringen. Auf den Fischerei-Deal angewandt: die Kapverdianer müssen aus jedem Abkommen mit den Europäern größere Vorteile ziehen als die Europäer. Unter Gerechtigkeitsperspektiven muss es hierbei eine Asymmetrie geben, die den schwächeren Part stärker macht. Aber auch wir, die wir fast jeden Abend im Thunfisch schwelgen, müssen uns unter Gerechtigkeitsprinzipien fragen, ob unser Verzehr die kapverdianischen Fischer, die Händler, die Köche und das Restaurantpersonal stärker begünstigt als uns der Genuss des köstlichen Fisches. Noch landen die Fischer jeden Morgen im kleinen Hafen von Ponta do Sol große und prächtige Fische an, die Boote sind mitunter bis zum Rand gefüllt.

Noch dreihundert Seemeilen ostwärts, im Senegal, ziehen die Fischer nur noch Fische von der Größe einer Dorade mit ihren Netzen aus dem Ozean. Die Europäer, Japaner und Koreaner haben dort den Ozean leergefischt. Die Öffentlichkeit wurde auf diese legale Piraterie erst aufmerksam, als einige senegalesische Fischer mit ihren Holzpirogen die ausländischen Fischtrawler enterten, David gegen Goliath, ganz klassisch. Doch das hat die EU nicht davon abgehalten, einen weiteren Akt der Piraterie mit den Kapverden abzuschließen. Ihnen droht nun dasselbe Schicksal wie dem Senegal, ein geplündertes Meer.

© Reisen mit Sinnen

Gelebter Gemeinsinn im Problemviertel Rivera Bote

Gerechtigkeit ist ein wertegeleiteter Prozess, keineswegs aber ein Zustand. Niemals und nirgendwo ist sie realisiert. Entwicklungen sind zu beobachten, ob sie Fortschritte bedeuten. Am Ende unserer Reise führt uns Markus durch Rivera Bote, ein einstiges Problemviertel Mindelos auf der Insel São Vicente. Noch vor einigen Jahren lieferten sich hier Jugendgangs kleine Schlachten. Heute hat das Viertel, in dem auch die große Nationalsängerin Césaria Évora geboren wurde, einen bescheidenen Aufstieg genommen dank eines Gemeindeprojekts, das viele Initiativen betreut von Drogenberatung über diverse kleine Handwerksexistenzen, künstlerischen und musikalischen Aktivitäten bis hin zu touristischen Führungen. Das Viertel selbst ist ein kleines Kunstwerk: Farbig bemalte Hauswände mit den Konterfeis der großen Helden der Geschichte von Che Guevara, Nelson Mandela oder Amilcar Cabral, der die Kapverden in die Unabhängigkeit führte. Und ganz plötzlich sind laute Trommeln zu hören und eine tanzende Truppe stürmt durch die Straßen. Sie tragen Federröcke und gehörnten Kopfschmuck und halten geschmückte Speere in den Händen. Sie inszenieren den Mandigue, eine Musikrichtung aus Mali, Gambia und dem Senegal. Nicht ohne Ironie persiflieren sie die afrikanische Kultur, der sie angehören – und auch wieder nicht.

© Peter Vollbrecht

Die Kapverden, irgendwo zwischen Westafrika, Brasilien und Portugal, auf jeden Fall mit ganz eigener Identität.

Peter Vollbrecht 2022
Peter Vollbrecht

Haben auch Sie Lust auf eine Reise auf die Kapverden mit Peter Vollbrecht, dann informieren Sie sich gerne hier.